Literaturnobelpreis 1946: Hermann Hesse

Literaturnobelpreis 1946: Hermann Hesse
Literaturnobelpreis 1946: Hermann Hesse
 
Der Schweizer erhielt den Nobelpreis für seine inspirierte Verfasserschaft, die in ihrer Entwicklung neben Kühnheit und Tiefe zugleich klassische Humanitätsideale und hohe Stilwerte vertritt.
 
 
Hermann Hesse, * Calw (Württemberg) 2. 7. 1877, ✝ Montagnola(Tessin) 9. 8. 1962; 1891-92 evangelisch-theologisches Seminar im Kloster Maulbronn, 1895-1903 unter anderem Buchhändler, ab 1904 freier Schriftsteller, 1912 Übersiedlung in die Schweiz,1916 Tod des Vaters und Lebenskrise, 1923 Schweizer Staatsbürgerschaft; Hesse gilt als meistgelesener europäischer Autor des 20. Jahrhunderts.
 
 Würdigung der preisgekrönten Leistung
 
Bereits der autobiografisch geprägte Roman »Unterm Rad« von 1906 spiegelt einen zentralen Grundzug von Hesses Gesamtwerk wider: das individualistische Aufbegehren gegen die nivellierenden Zwänge der modernen Gesellschaft. In dem Roman verarbeitet Hesse Motive seiner eigenen Kindheit und die seines Bruders Hans, der wie die gleichnamige Hauptfigur des Romans Selbstmord beging. Aus persönlicher Anschauung heraus werden das Leben im Klosterseminar Maulbronn, die Lehrlingszeit und das träg-idyllische Dasein einer schwäbischen Kleinstadt beschrieben. Die spätromantische Grundstimmung wird dabei durchbrochen von der bitteren Anklage gegen das Schulsystem der Zeit, das jedwede schöpferische Individualität zu brechen versucht, um autoritätshörige Untertanen heranzuziehen.
 
 Tiefenpsychologie oder »Demian«
 
Im Jahr 1916 stürzt Hesse in eine tiefe Krise. In seiner Wahlheimat Bern reibt ihn seine Tätigkeit in der »Deutschen Gefangenenfürsorge« auf, das jüngste Kind erkrankt gefährlich, der Vater stirbt, die Ehe kriselt, und Ehefrau Maria geht zeitweilig in eine Heilanstalt. Schließlich ist Hesses eigene psychische Verfassung so angegriffen, dass er sich einer psychoanalytischen Behandlung in der Luzerner Privatklinik Sonnmatt unterzieht. Die Psychoanalyse gehörte seitdem zum festen Bestandteil von Hesses Weltbild. In dem Aufsatz »Künstler und Psychoanalyse« schrieb er 1918: »Wer den Weg der Analyse, das Suchen seelischer Urgründe aus Erinnerungen, Träumen und Assoziationen, ernsthaft eine Strecke weit gegangen ist, dem bleibt als bleibender Gewinn das, was man etwa das »innigere Verhältnis zum eigenen Unbewussten« nennen kann. Er erlebt ein wärmeres, fruchtbareres leidenschaftlicheres Hin und Her zwischen Bewusstem und Unbewusstem; er nimmt von dem, was sonst »unterschwellig« bleibt und sich nur in unbeachteten Träumen abspielt, vieles mit ans Licht herüber.« Die auf den psychotherapeutischen Sitzungen gemachten Erfahrungen fanden Eingang im Roman »Demian« (1919). Geschildert wird der Kampf des Icherzählers Emil Sinclair um die Ausbildung seiner Individualität und seinen Weg zu sich selbst. Thomas Mann (Nobelpreis 1929) gestand mit Bezug auf »Demian« freimütig seinem Tagebuch: »... das psychoanalytische Element darin [ist] entschieden geistiger und bedeutender verwendet als im Zauberberg.«
 
 Indische Philosophie oder »Siddhartha«
 
Als Ergebnis der Auseinandersetzung Hesses mit der Philosophie und Religion Indiens erschien 1922 die Erzählung »Siddhartha«. Das Werk, das zu den meistgelesenen Texten des letzten Jahrhunderts gehört, erzählt die Geschichte der Heilssuche des Brahmanensohnes Siddhartha. Sein Ziel erreicht der Suchende erst, nachdem er die Einseitigkeiten sowohl der körperlichen Liebe als auch der geistigen Askese in Phasen der Verzweiflung durchschritten, den Gegensatz von Leben und Geist in sich vereinigt und zugleich überwunden hat. Erst jetzt lässt Hesse Siddhartha zu sich selbst kommen. In der so vollzogenen Überwindung des Ich bei Siddhartha sah er die psychologische Basis aller Weltreligionen und Weisheitslehren. Mit diesem Gedanken suchte Hesse auch nach Verständigungsmöglichkeiten zwischen den Kulturen des Ostens und des Westens. Über Hesses Roman äußerte sich Henry Miller begeistert: »Nichts mehr seit der Lektüre des Tao Te King hat mir so viel bedeutet. .. Einen Buddha zu schaffen, der den allgemein anerkannten Buddha übertrifft, das ist eine unerhörte Tat, gerade für einen Deutschen. Siddhartha ist für mich eine wirksamere Medizin als das Neue Testament
 
 Asketischer Geist oder »Das Glasperlenspiel«
 
Hesses letztes großes Prosawerk erschien 1943. »Das Glasperlenspiel« projiziert in die Zukunft die Vorstellung einer Welt der geistigen Ordnung und Harmonie, um damit der eigenen Gegenwart des Chaos und der Gewalt ein Gegenbild der asketischen Selbstbesinnung zu entwerfen. Höchste Kunst in der überzeitlichen Gemeinschaft des Geistes in Kastalien ist das geistig-meditative Spiel der Glasperlen, ihr höchstes und letztes Ziel die Heiterkeit. Hesse verstand den Roman als Summe seines Schaffens und als Reaktion auf die Erfahrungen im Nationalsozialismus. In einem Brief 1955 erläuterte er: »Ich musste, der grinsenden Gegenwart zum Trotz, das Reich des Geistes und der Seele als existent und unüberwindlich sichtbar machen, so wurde meine Dichtung zur Utopie, das Bild wurde in die Zukunft projiziert, die üble Gegenwart in eine überstandene Vergangenheit gebannt. Und zu meiner eigenen Überraschung entstand die kastalische Welt wie von selbst.«
 
 Magietheater oder »Der Steppenwolf«
 
Nach dem Erfolg des »Glasperlenspiels« begann Hesses literarisches Ansehen zu sinken. Er galt zunehmend als mittelmäßiger Schriftsteller einer verklärt-esoterischen Romantik. Über Sprache und Stil seines Romans »Narziss und Goldmund« (1930) urteilte der Literaturkritiker Karlheinz Deschner in seiner Streitschrift »Kitsch, Konvention und Kunst« (1957): »Eine ganz und gar längst vorgeprägte und verbrauchte Ausdrucksweise, zuckrig-romantisch, läppisch-empfindsam, nahe dem Schmachtfetzen, der Schnulze, dem Kitsch.«
 
Erst mit der Wiederentdeckung von »Der Steppenwolf« (1927) in den 1960er-Jahren begann Hesses Stern wieder am Himmel der Literatur zu leuchten. Das berühmte magische Theater am Ende seines Romans machte Hesse zum Kultautor der amerikanischen und europäischen Jugendbewegung. »»Wir sind«, lächelte er, »in meinem magischen Theater, und falls du den Tango lernen oder General werden oder dich mit Alexander dem Großen unterhalten willst, so steht das alles nächstesmal zu deiner Verfügung...«« Der Harvard-Dozent und Hippie-Apostel Timothy Leary empfahl 1963 die Schilderung der rauschartigen Erlebnisse im magischen Theater als vorbereitende Lektüre für LSD-Sitzungen.
 
In der Wiedervermittlung Hesses nach Deutschland durch die amerikanische Lesart geriet der religiös-konservative Grundzug seines Werks aus dem Blick. In diesem Sinn stellte auch der österreichische Schriftsteller Peter Handke 1970 erstaunt fest: »Ich habe die Bücher mit großem Staunen und immer mehr Neugierde gelesen. Dieser Hermann Hesse ist nicht nur eine romantische Idee der Amerikaner, sondern ganz gewiss ein vernünftiger, überprüfbarer großer Schriftsteller.«
 
M. Kempe

Universal-Lexikon. 2012.

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